Lange, dunkle Winter, raues Klima, vergammelter Hai – wen wundert’s, dass Isländer über Jahrhunderte hinweg ein ziemlich dickes Fell entwickelt haben? Sie sind durch nichts so leicht aus der Ruhe zu bringen. Außer durch politische Missstände. Ansonsten ist der gemeine Isländer ein entspannter Charakter.
„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“ jagt uns Deutsche durch einen hektischen Alltag. Der Isländer lehnt sich zurück und sagt „Þetta reddast“ – „wird schon.“ Natürlich sagen auch Deutsche oft „wird schon“. Es scheint aber den Unterschied zu geben, dass Deutsche sich das einreden müssen, während bei Isländern diese Einstellung tief verwurzelt ist. Es sollen hier natürlich keine Nationalitäten plump gegenübergestellt werden; dafür ist unsere Welt viel zu komplex. Doch irgendwie ist die Atmosphäre in Island, allgemein gesprochen, schlichtweg entspannter. Stress kommt hier scheinbar am erst am letzten Tag der längst überschrittenen Frist auf. Pünktlichkeit ist keine Tugend. Chaos ist kreativ. Als Deutsche/r in Island kann man mal an seine kulturellen Grenzen stoßen – ist man selbst ein Klischeedeutscher, der pünktlich, effizient und überhöflich ist. Doch vor allem ist das Lebensgefühl der Isländer ansteckend. Niemand guckt dich schief an, wenn du zwanzig Minuten zu spät ins Café geschlendert kommst. Du hast eine Frist verpasst? Nagut, wir drücken mal ein Auge zu. Das ist herrlich! Wo die deutsche Bürokratie manchmal etwas zu pingelig ist, ist es bei den Isländern oft flexibler. Selbstverständlich hat das auch mit der Einwohnerzahl zu tun. 320.000 vs. 81 Millionen – deutsche Stadtmenschen treffen im Pool, im Finanzamt oder im Supermarkt sicherlich nicht mindestens einen entfernten Verwandten, einen ehemaligen Schulkamera oder die Tochter einer Freundin. Man lässt sich Zeit, weil man sich Zeit lassen kann. Und das ist wunderbar.
Auch mit Problemen, kleinen aber auch größeren, gehen die Isländer locker um. Kreative Lösungen sind willkommen, notdürftige Lösungen durchaus auch. Oder erstmal ein paar Nächte drüber schlafen. Wenn du also das nächste Mal vor einem Problem stehst und grübelst, wie du es schnell und effektiv lösen kannst, murmel dreimal „Þetta reddast“ und mach einen Spaziergang an der frischen Luft.
Eine Ausnahme, und das rechne man den Isländern hoch an, ist ihr politisches Interesse. Hier gilt „Þetta reddast“ eben nicht. Bei politischen Debatten sind die Isländer fix auf der Straße, kämpfen eifrig für ihre Rechte und geben sich nicht leicht geschlagen. Island gilt zum Beispiel als eines der Länder mit der höchsten Gleichberechtigung von Mann und Frau. Aber sie ruhen sich nicht darauf aus, sondern kämpfen stetig weiter. Bänker wurden nach der Krise 2008 tatsächlich zur Rechenschaft gezogen und wanderten zum Teil ins Gefängnis. „Þetta reddast“ heißt also keinesfalls, Probleme hinzunehmen. Sondern einfach, Probleme entspannter anzugehen.
Wer seine Energie nicht auf all diese Kleinigkeiten wie Pünktlichkeit, Fristeinhaltung und Perfektionismus verschwendet, der bewahrt sie sich auf und verwendet sie dort, wo sie wirklich gebraucht wird. In der politischen Debatte, im Job und in der Kunst.